„Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute“ hat man mir als Kind beigebracht. So richtig habe ich nie verstanden, was das eigentlich bedeuten soll bzw. mit der Kleidung zu tun hat. Aber heute weiß ich, dass es generell keinen Sinn macht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Egal, ob angezogen oder nicht. Leider ist das Finger-Pointing heute aber wieder ganz groß in Mode.
Menschen machen nunmal Fehler. Diese Fehler haben häufig Konsequenzen. Und natürlich ist das nicht unbedingt immer angenehm oder hat gar tragische Folgen. Das gilt aber sicher für alle Beteiligten. Ich kann auch durchaus verstehen, dass wir uns kurz über uns selbst oder auch andere ärgern. Klar, der Frust muss eventuell auch einfach mal raus. Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist diese Penetranz, mit der in manchen Diskussionen nach einem Schuldigen gesucht wird.
Aktuell ist das ziemlich extrem bei der Debatte bzw. Aufregung hinsichtlich der Maßnahmen und Handlungen rund um die Krisenbewältigung während der andauernden Pandemie zu beobachten. Egal, ob es nun um Prävention, Eindämmung oder Impfung geht. Überall höre ich Vorwürfe und Anfeindungen, wie schlecht doch zum Beispiel das Krisenmanagement betrieben wird.
Ich möchte an dieser Stelle auch gar nicht über die Kompetenz der Kritiker und Kritisierten streiten. Mir geht es erst mal nur um die Schuldfrage. Wer hat eigentlich Schuld daran, dass etwas zu spät oder falsch entschieden wurde? Wer hat Schuld, dass die Impfkampagne nicht so läuft, wie gedacht. Wer hat Schuld…
Selbstorganisation und Schuld
Tatsächlich frage ich mich da schon eher, wer eigentlich Schuld daran hat, dass alle so sehr damit beschäftigt sind, nach den Schuldigen zu suchen. Nein, war nur Spaß. Das frage ich mich nicht wirklich. Ich bin es nämlich schon aus meinen Scrum- und Management-Trainings gewohnt, dass Menschen aus Gewohnheit und aufgrund der Sozialisation ziemlich schnell die Schuldfrage hervorbringen. Insbesondere, wenn es um Selbstorganisation, flache Hierarchien und Lateral Leadership geht. Also immer dann, wenn man nicht mehr an einem Organigramm ablesen kann, wer geköpft oder gefeuert wird, sollte etwas schief gehen.
Dabei ist doch die Schuldfrage in solch einem Kontext eine der wenigen wirklich überflüssigen Fragen. Die Frage nach der Schuld ist aus meiner Sicht ein deutliches Indiz für ein bestimmtes Mindset, das eventuell in der heutigen Zeit nicht mehr ganz so passend ist. Denn welchen Mehrwert bringt diese Frage? Welchen Mehrwert bringt die Antwort darauf? Was wird dadurch besser? Geht es wirklich um Verantwortungsübernahme oder eher um Genugtuung, Aktionismus oder gar Rache?
Lernkultur statt Fehlerkultur
Macht es stattdessen nicht viel mehr Sinn, zu ergründen, warum etwas passiert ist und was daraus gelernt werden kann? Wäre es nicht viel smarter, das System nach einem Fehler so anzupassen, dass es in Zukunft diesen und ähnliche Fehler vermeiden oder besser damit umgehen kann?
Wir leben und arbeiten nun mal in einer sehr komplexen Welt. Alle werden wir ständig mit Situationen konfrontiert, die wir so vielleicht noch nie zuvor gehabt haben. Wenige davon sind planbar oder gar beherrschbar. Etwas zu tun, was nicht so funktioniert, wie erwartet und daraus zu lernen, gehört nunmal zur VUKA-Welt dazu. Und selbstverständlich darf man hinterher auch dazu stehen. Insbesondere, wenn es sich tatsächlich um einen Fehler handelt. Aber über die Definition von Fehlern muss in diesem Zusammenhang eventuell noch mal gesprochen werden. Denn implizit heißt es ja, dass ungewünschte Folgen irgendwie absehbar gewesen wären. Und selten haben die Schuldsuchenden selbst genügend Informationen, um das abzuschätzen. Retrospektiv betrachtet ist es ja ein leichtes festzustellen, ob etwas erfolgreich ist oder nicht. Deshalb brauchen wir heute tatsächlich auch mehr als eine Fehlerkultur. Der Fokus sollte auf dem Lernen für die Zukunft und nicht auf den Fehlern der Vergangenheit liegen.
Beeindruckend finde ich in diesem Zusammenhang auch die Worte, die Thomas Watson als ehemaliger Chef von IBM wohl an einen Mitarbeiter gerichtet haben soll, der einen mehrere hunderttausend Dollar schweren Fehler gemacht hatte: „Sie jetzt feuern? Niemals – jetzt, wo wir gerade 600.000 Dollar in Ihre Entwicklung investiert haben.“
Konstant Positive Unterstellung
Wir treffen nun mal zu einer bestimmten Zeit Entscheidungen aufgrund (nicht-)vorhandener Informationen und bestehender Eindrücke. Statt nun rückblickend diese Entscheidungen und die Entscheider zu verurteilen, sollten wir viel häufiger einfach die KPU anwenden. KPU steht für „Konstant Positive Unterstellung“. Die KPU aus dem Kontext der Gewaltfreien Kommunikation hat in meinen Scrum- und Leadership-Trainings einen festen Platz im Methoden- und Prinzipienkoffer.
Wir denken und handeln viel positiver und konstruktiver, wenn wir davon ausgehen, dass jede und jeder jederzeit ihr und sein Bestes gibt. Und wenn doch mal etwas nicht so läuft, wie gewünscht, gibt es dafür Gründe. Diese Gründe sind doch viel Interessanter in der Betrachtung, als die leidliche Frage wer es verbockt hat. Diese Frage schürt nur Angst und zerstört zum Beispiel die emotionale Sicherheit in einem Team. Da brauchen wir uns dann irgendwann auch nicht mehr wundern, dass es sich die Menschen so gern so bequem in ihren sogenannten Komfortzonen machen und auch keine Risiken mehr eingehen, wenn es um Weiterentwicklung und Innovation geht. Und ganz ehrlich: Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der einfach mal so ins Büro gekommen ist und sich mit Absicht gedacht hat: „Heute bau ich mal richtig Mist.“
Und übrigens: es gibt nicht nur jemanden, der einen „Fehler“ macht, es gibt immer auch noch die anderen drumherum, die das zulassen und den oder die anderen eventuell nicht ausreichend unterstütz haben. Allein deshalb, sollten wir uns alle viel mehr damit beschäftigen, was wir selbst verändern, verbessern und beitragen können, anstatt Zeit und Energie bei einer unnützen Diskussion zu verschwenden. Wenn die Situation erst mal ist, wie sie ist, können wir trotzdem selbst kleinste Maßnahmen in unserem direkten Umfeld anstoßen, um Schritt für Schritt voran zu kommen. Das wird nämlich gern mal vergessen oder gerät in den Hintergrund, wenn alle Leidenschaftlich nach einem Verantwortlichen suchen und rufen.
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